Sonntag, 24. Oktober 2010

"...or I'll simply be a drop of rain/but I will remain..."



Willie Nelson, Johnny Cash, Kris Kristofferson: Highway Man

Der Schweigegott

"Ich setzte das Schweigen, zu dem ich meine Gedanken sandte, Gott gleich. Ich gewöhnte mich daran, dass er keine Antwort gab, und erwartete auch keine mehr. Der Schweigegott war jetzt nicht mehr die Leere, das Nichts - sondern eine Kraft. Ich lieferte mich ihr aus und vermeinte zu spüren, dass sie etwas auf mich übertrug, Ohne es zu wissen, machte ich religiöse Erfahrungen und überwand dadurch den Zustand der Bodenlosigkeit."

Gerhard Roth, Das Alphabet der Zeit

Dienstag, 12. Oktober 2010

Das gierige Hirn

Mein Hirn – nein, das kann man nicht so formulieren. Mein Hirn gehört mir nicht, es gehört höchstens sich selbst oder dem Bewusstsein, das es produziert. Wenn schon, müsste es vielleicht eher heissen: Ich, das Hirn. Aber auch diese Formulierung kann nicht recht überzeugen, schliesslich ist dieses „Ich“ ein jämmerliches Kerlchen, von dem man wenig weiss und nicht mal sicher, ob es überhaupt existiert. Also: Nicht mein Hirn, sondern: das Hirn. Das Hirn, es will und will. Es will beschäftigt, stimuliert werden. Es braucht Nahrung, es braucht Sinneseindrücke, es braucht Schlaf, es will Sex, es will vergessen, es will sich erinnern, es will immer mehr, dann will es gar nichts mehr, es ist überdrüssig, es ist überstimuliert, es ist überwach, es ist müde, es leidet an Hyperaktivität, es leidet an Überfluss, es leidet an Mangel, es leidet an sich selbst, es will leiden, es will Erkenntnis, es will Sinn, es will Erleuchtung, es will Drogen, es will bittere Bananen, es will kiffen und saufen, es will huren und fluchen, es will quälen und morden, es will aber auch bereuen und sich schuldig fühlen, es will Vergebung und Rache, es will alles und nichts, aber alles kann es nicht bekommen kann und nichts erst recht nicht.

Zivilisation ist die Trockenlegung der Feuchtgebiete des Gehirns, des Sumpfgebietes der Psyche, des Schlamms und des Moors der Psyche, dem wie Blasen der bewusste Gedanke entsteigt, das blubbert und köcherlt nur so vor sich hin in dieser Ursuppe, diesem riesigen Meer der Illusion und der Verschleierung der wahren Tatsachen, die das Hirn nicht erkennen kann, weil es sich im Grunde immer nur selber bespiegelt, um nicht zu sagen bespitzelt.

Das Hirn, denkt das Hirn, macht sich selber verrückt: es ist wie der Hund, der vergeblich seinen eigenen Schwanz jagt.