Da ergab es sich, was selten geschah, dass Sancho Pansa, der Weltdiktator, und der ständig an seinem Hof akkreditierte Botschafter Tobosos, Don Quichotte, eines Abends allein zusammen dienierten. Es wurde wieder einmal eine Lachsmoussetarte zur Vorspeise serviert, die zwar exzellent zubereitet war, aber Sancho, im Herzen eher Gourmand als Gourmet, Liebhaber rustikaler Genüsse wie hausgemachter Tortilla und einer gut gewürzter, mit Knoblauch gespickter Chorizo-Wurst, inzwischen zum Hals heraushing.
Don Quichotte mochte einer Lachsmoussetarte erst recht nichts abzugewinnen. Er schaute sie mit seinen melancholischen, blutunterlaufenen Augen nur ganz verächtlich an. Ein paar Gänge später kam zu einem guten Burgunder (Meursault AC Dufouleur Père & Fils) ein Baron d’agneau de Lait auf den Tisch. Der dicke Diktator richtete zum ersten Mal sein Wort an den hageren, mit Appetitlosigkeit gestraften Botschafter. «Ich sehe», seufzte Sancho, «werte Exzellenz, famoser Botschafter, dass Sie auch keinen rechten Hunger haben. Wie sagt das Sprichwort schon wieder? Hunger ist der beste Koch. Und das Sprichwort hat ja ganz recht. Wie aber soll man, frage ich Sie, hier mal so richtig Hunger bekommen? – Ja ja», fuhr Sancho übergangslos fort, manchmal denke ich, dass ich zum Herrscher einfach nicht geboren bin. Ich bin zu sensibel für die Bürde dieses Amtes. Aber was will man? So einen Job kann man doch nicht einfach kündigen. Aber manchmal habe ich die Schnauze einfach voll davon, in diesem goldenen Käfig zu hocken. Unter uns gesagt, streng unter uns gesagt, mein lieber Botschafter, Sie verstehen. Für die Öffentlichkeit bin und bleibe ich natürlich kraftstrotzend, unerschütterlich, zuversichtlich. Der grosse Mann mit Durchblick. Der kleine grosse Mann mit Durchblick, von mir aus.» Sancho schwieg, um eine Träne um so wirkungsvoller aus dem Augenwinkel tropfen zu lassen. «Unter uns gesagt, streng unter uns gesagt, habe ich den Durchblick natürlich überhaupt nicht. Ich weiss nicht, wie meine Untertanen leben, kenne ihr Denken und Fühlen nicht, weiss nicht, was sie tun, was sie bewegt, freut und ärgert. Gar nichts weiss ich. Und dieser Klumpfuss, der meint, für mich denken und entscheiden zu müssen, der glaubt, für mich die Dinge und die Menschen und die Zusammenhänge zu kennen und den Durchblick zu haben, ist ein Scheusal. Ein Scheisskerl. Ein Hurensohn. Ein Mutterficker. Ein Grossmutterverkäufer. Sie sehen, streng unter uns gesagt: Er geht mir tierisch auf den Sack. Ausserdem weiss ich wohl, dass er mich verachtet. Benützt und verachtet, jawohl. Aber was kann ich schon tun? Ich kann ihn nicht entlassen, der Mann hat ja kein Amt. Er ist ein grauer Mann, und ich fürchte, es gibt noch viele von seiner Art am Hof.» Sancho schwieg, ermattet und gedankenschwer.
Don Quichotte wunderte sich über die lange Rede des Diktators, denn üblicherweise pflegte Sancho sich in Sprichwörtern zu ergehen, zu schnaufen oder zu schweigen. «Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen», fing er nach einigen Momenten des Nachdenkens an, «der vielleicht sowohl Ihnen als auch mir selbst einen noch nicht abschätzbaren Vorteil oder gar uns beiden einen plötzlichen Ausweg zeigen kann. Auch ich traue Herrn von Klumpfuss nicht über den Weg, auch wenn es den Anschein hat, dass wir beide die Cerberaner bekämpfen. Es heisst ja, der Feind deines Feindes ist dein Freund. Was man von solchen Sprüchen halten soll? Item. Item und wie dem auch sei. Ich muss die Angelegenheit endlich wieder in meine eigenen Hände nehmen. Ich habe vielleicht, ganz entgegen meiner Gewohnheit, schon allzu lange gezögert und gezaudert und zugewartet, und Sie, Exzellenz, wenn ich mir die Bemerkung untertänigst erlauben darf, wohl auch.» Sancho war plötzlich ungeduldig. «Sagen Sie schon, mein lieber Botschafter, was Sie zu sagen haben, und kommen Sie auf den Punkt!» – «Der Vorschlag ist wie jede Idee im Grunde genommen lächerlich einfach. Wir machen uns einfach aus dem Staub! Mischen uns inkognito unters Volk. Sie, um ihren Untertanen zu begegnen, ich, um auf meine Art die Sache der Toboser zu regeln.» Don Quichottes Augen glühten im alten Feuer. Aber Sancho hatte natürlich Bedenken anzumelden. Gewiss, er brannte darauf, inkognito durch die Welt zu wandern, wieder einmal richtig Hunger und Durst zu haben, wieder einmal richtig müde zu sein. Er hatte genug von dem falschen Märchen, in dem er lebte. Aber andererseits hatte er sich auch an das fette faule Leben im Palast gewöhnt, und die heimtückischen Gefahren, die von diesem ausgingen, schienen ihm weniger bedrohlich als die freie Wildbahn des Lebens draussen vor dem Palast. Und die Eitelkeit! Die Eitelkeit, ein Diktator und Weltbeherrscher zu sein, musste auch fallen gelassen werden. Das tat weh. Aber gut, dachte Sancho, lassen Wir die Eitelkeit fahren und werden wieder zu einem ich mit kleinem i, mehr noch: Scheissen Wir drauf. Er sagte: «Mein lieber Botschafter und Freund! Ihre Idee gefällt mir sogar ausnehmend gut. Allerdings gibt es noch einige Punkte zu klären. Diese Punkte gilt es dringend zu klären, bevor wir aufbrechen können. Zum Beispiel ist zu bedenken, dass ichj, soweit ich mich enrinnern kann, noch nie ausserhalb der Mauern dieses Palastes war. Genau wie der letzte chinesische Kaiser, Wu oder Pu oder Pipapo oder wie er hiess, befinde ich mich in der fatalen Situation, die Welt da draussen, die mein Reich ist, nur vom Hörensagen her zu kennen. Ich weiss nicht, welche Sprache mein Volk spricht. Ich weiss nicht, wie man sich als gewöhnlicher Mensch, sagen wir einmal als ein Mensch der Klasse F oder G, unter gewöhnlichen Menschen bewegt und benimmt, was sich ziemt oder nicht ziemt, wie und was man isst, wie und wen man liebt und überhaupt, etc. etc. etc. Dazu kommt, dass man mich kennt: Mein Gesicht flimmert über die Bildschirme, mein gesicht hängt, wie man mir immer wieder versichert hat, im jedem anständigen Wohnzimmer auf dieser Welt, ganz zu schweigen von den überlebensgrossen Porträts und Statuen, die die Räumlichkleiten der öffentlichen Gebäude und die Plätze schmücken. Man würde mich doch sofort erkennen! Wie kann ich da inkognito sein?» – «Aber nicht doch, Exzellenz! Sie haben, mit Verlaub, ein recht durchschnittliches Gesicht, das in einer gewöhnlichen Umgebung niemandem auffallen wird. Ausserdem haben sich die Leute schon dermassen an das omnipräsente Bild Ihrer Majestät gewöhnt, dass sie es inzwischen gar nicht mehr sehen. Allenfalls werden die Leute beim Anblick der einst hoheitlichen und jetzt normalsterblichen Exzellenz einen Moment lang denken: Den kenn ich doch von irgenwo her. Aber dann wird dieser Gedanke schon weitergewwandert sein, wie wir. Und was die Sitten und Bräuche in Ihrem Reich angeht, Hochwohlgeborener, das Leben draussen kennt nur einen Grundsatz: Versuch und Irrtum, also: Lernen, lernen, lernen!»
Einen Moment lang war Sancho arg gekränkt und wollte böse auf den Botschafter respektive auf Don Quichotte werden, wegen des gewöhnlichen Gesichts. Aber dann erinnerte er sich seines feierlichen Vorsatzes, aller Eitelkeit fortan abzuschwören. Zudem brachte nur schon der Gedanke an die Schwierigkeiten und und Entbehrungen der Zukunft Sanchos alten Appetit zurück: Er ass das Dessert, Poires «Palais Royal», seit langem wieder einmal mit Vergnügen und Lust. Der Diktator der Welt und der Botschafter Tobosos beschlossen, ihren Plan noch in derselben Nacht auszuführen. Ihre langen dünnen und kurzen breiten Schatten liessen sie dabei mit einem schälkischen Vergnügen in der Vergangenheit zurück.
Montag, 26. Oktober 2009
Freitag, 9. Oktober 2009
Traurige Jäger (11)
Sancho Pansa, seines Zeichens Welt-Diktator, charismatische Identifikationsfigur, grosser Kommunikator und Lebemann, verbrachte seine Zeit inzwischen wie die Made im Speck. Zu regieren hatte er nicht viel und von dem nicht vielen immer weniger. Es ist zu vermuten, dass es ihn selbst nicht mehr brauchte – hatten sich doch die Medien seines Bildes bemächtigt. Es ist zu vermuten, dass sein Phantom ein Eigenleben zu führen begonnen hatte. Möglicherweise verfassten andere für ihn die Reden, die er nicht einmal mehr selbst zu halten brauchte. Möglicherweise fasste man in seinem Namen Beschlüsse, von denen er keine Ahnung hatte und deren Bedeutung er wahrscheinlich gar nicht verstanden hättte. Mit seinem Wort, das andere sprachen, bestimmte er über Bürger, mit denen er keinen Kontakt hatte, war überall präsent und doch ganz allein (im Glashaus seiner Lüste, umgeben von Lustdienerinnen und anderen Bediensteten, die ihm den Becher reichten, vielleicht auch die Füsse küsste, sicher ihm den Becher reichte, immer wieder, und ihm Schmeichelworte ins Ohr flüsteren).
Sancho ass mit immer geringerem Appetit, trank mit immer weniger Durst, triebs mit den dicken Frauen mit immer weniger Lust. Er fing an, sich vor Impotenz zu fürchten – eine Sache, die jeden Mann beunruhigen würde, erst recht aber einen spanischen Macho. Er wurde übellaunig und tyrannisch. Wenn er Nero – oder vielmehr Peter Ustinoff in der Rolle von Nero – gewesen wäre, hätte er sich ein Rom angezündet vor lauter Langeweile und ein Gedicht dazu verfasst oder eine Kantate. Aber es gab kein Rom mehr, das man hätte anzünden können, es gab überhaupt nichts mehr anzuzünden, wozu man hätte Tränen vergiessen und diese in einer Kanüle auffangen können. Ausserdem war Sancho (wie übrigens auch Nero anno dazumal) im Verseschmieden nur mässig begabt. Die Welt ist zu den Zeiten, in denen unsere Geschichte handelt, absolut sicher vor unbeherrschten oder hysterischen Tyrannen. Dafür sorgen Leute wie unser lieber Herr von und zu Klumpfuss schon.
Überhaupt fand von Klumpfuss, dass man auf Sancho eigentlich so langsam verzichten könnte. Dieser Sancho verschlang nur viel Geld. Es kostet Geld, sich einen Weltdiktator wie Sancho zu halten. Geld, das man besser in die Verbesserung der menschlichen Gensubstanz investieren würde. Auch war die Art des Sancho Pansa dem Herrn von Klumpfuss ganz persönlich sehr unsympathisch. Sancho war in den klumpfussschen Augen total vertiert. Und alles Tierische am Menschen war Klumpfuss zutiefst suspekt. Auf Tiere konnte Klumpfuss als Vegetarier generell verzichten. Das einzig Gute an der Natur, diesem Ungeheuer, war, dass sie einst den Menschen hervorgebracht hatte. Und der Mensch wiederum hatte einzig und allein die Pflicht, den vollkommenen Menschen zu zeugen, den Übermenschen. Und damit basta.
Der Klumpfuss dachte also daran, Sancho, unseren Sancho, den er nun nicht mehr brauchte, der seine Pflicht und Schuldigkeit getan hatte, aus dem Weg zu räumen. Davon ahnte unser Sancho natürlich nichts. Und Don Quichotte, was ist mit dem? Der wurde immer magerer, schweigsamer, melancholischer. Wen wunderts.
Sancho ass mit immer geringerem Appetit, trank mit immer weniger Durst, triebs mit den dicken Frauen mit immer weniger Lust. Er fing an, sich vor Impotenz zu fürchten – eine Sache, die jeden Mann beunruhigen würde, erst recht aber einen spanischen Macho. Er wurde übellaunig und tyrannisch. Wenn er Nero – oder vielmehr Peter Ustinoff in der Rolle von Nero – gewesen wäre, hätte er sich ein Rom angezündet vor lauter Langeweile und ein Gedicht dazu verfasst oder eine Kantate. Aber es gab kein Rom mehr, das man hätte anzünden können, es gab überhaupt nichts mehr anzuzünden, wozu man hätte Tränen vergiessen und diese in einer Kanüle auffangen können. Ausserdem war Sancho (wie übrigens auch Nero anno dazumal) im Verseschmieden nur mässig begabt. Die Welt ist zu den Zeiten, in denen unsere Geschichte handelt, absolut sicher vor unbeherrschten oder hysterischen Tyrannen. Dafür sorgen Leute wie unser lieber Herr von und zu Klumpfuss schon.
Überhaupt fand von Klumpfuss, dass man auf Sancho eigentlich so langsam verzichten könnte. Dieser Sancho verschlang nur viel Geld. Es kostet Geld, sich einen Weltdiktator wie Sancho zu halten. Geld, das man besser in die Verbesserung der menschlichen Gensubstanz investieren würde. Auch war die Art des Sancho Pansa dem Herrn von Klumpfuss ganz persönlich sehr unsympathisch. Sancho war in den klumpfussschen Augen total vertiert. Und alles Tierische am Menschen war Klumpfuss zutiefst suspekt. Auf Tiere konnte Klumpfuss als Vegetarier generell verzichten. Das einzig Gute an der Natur, diesem Ungeheuer, war, dass sie einst den Menschen hervorgebracht hatte. Und der Mensch wiederum hatte einzig und allein die Pflicht, den vollkommenen Menschen zu zeugen, den Übermenschen. Und damit basta.
Der Klumpfuss dachte also daran, Sancho, unseren Sancho, den er nun nicht mehr brauchte, der seine Pflicht und Schuldigkeit getan hatte, aus dem Weg zu räumen. Davon ahnte unser Sancho natürlich nichts. Und Don Quichotte, was ist mit dem? Der wurde immer magerer, schweigsamer, melancholischer. Wen wunderts.
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